Jedes Lebewesen hat je nach Situation das Bedürfnis nach mehr oder weniger Abstand von einem anderen Individuum, aber auch von unbelebten Dingen.

Ich denke gerade an den großen, schwarzen Sack, der einem Hund sehr gruselig erscheint und an dem er nur mit großem Abstand vorbeikommt.

Sicherlich kennst du auch den vorsichtigen Hund, der angeleint an eine fremde Person herangezogen wird, damit diese den Hund streicheln oder füttern kann.

Der Hund versucht, zuerst durch das FREEZE (Erstarren/Einfrieren) den Abstand aufrecht zu erhalten, dann folgt der Versuch, rückwärts aus der Geschichte herauszukommen.

Es scheint, als gäbe es eine unsichtbare Barriere, eine Grenze, die der Hund auf keinen Fall überschreiten will.

Es gibt einen Bereich, in dem der Hund sich wohl und sicher fühlt. Das ist der sogenannte Wohlfühl- oder Sicherheitsbereich.

Du kannst dir diesen Bereich als eine große Blase oder einen durchsichtigen Ballon vorstellen, von dem das Tier umgeben ist. Die Größe des Wohlfühlbereiches ist je nach Individuum sehr unterschiedlich und schwankt situationsabhängig in seiner Ausdehnung.

Dieser Bereich definiert den Abstand, bis zu dem ein Tier eine Annäherung eines anderen Tieres oder eines Menschen duldet, ohne mit Abwehr- oder Fluchtverhalten zu reagieren.

Wird diese Grenze unterschritten, befindet sich das Tier in einem Konflikt, welcher sich unbehaglich anfühlt.

 

Der Hund zeigt u.a. körpersprachlich Folgendes:

  • schmatzen, gähnen, kratzen, blinzeln, über die Schnauze lecken, Haare sind aufgestellt, Rute eventuell abgesenkt, angelegt, verlangsamte Bewegungen
  • aber auch Nervosität, bellen, fiepen, in der Leine ziehen, anspringen sind möglich

Weitere Strategien, um die vorhersehbare Annäherung zu vermeiden sind die 4 F:

 

  • FREEZE / Erstarren

    stehen bleiben, setzen + Unbeweglichkeit

  • FLIGHT / Flucht

    durch Entweichen, Ausweichen, Verstecken (wenn angeleint), Weglaufen, wenn möglich

  • FIDDLE / soziale Interaktion

    Übersprungshandlungen und Beschwichtigungsgesten, herumalbern, scheint wie Spieleinladung, gilt aber der Konfliktentschärfung

  • FIGHT / Angriff

    Drohverhalten, nach vorn springen, bellen, schnappen, beißen

Der Hund wechselt innerhalb dieser Strategien, abhängig von vielen Faktoren in dieser Situation.

Beispiel:

Ein Hund, der ein wenig zurückhaltend im Kontakt mit Artgenossen ist und bisher nach dem kurzen Erstarren immer ausgewichen ist, hat eine schmerzhafte Begegnung mit einem „der-will-doch-nur-spielen-Hund“ gemacht.

Das Beschwichtigen, das Ausweichen hat nicht genützt, der „Überfall“ wurde dadurch nicht aufgehalten. Diese unangenehme Erfahrung war ausreichend und der Hund entwickelte eine andere Strategie in der Begegnung mit Artgenossen.

Wenn sich jetzt ein anderer Hund nähert, folgt immer noch das kurze Erstarren/Freeze, aber dann legt der Hund sich hin, um den Angriff/Fight als wirksamere Strategie einzuleiten. Da diese Taktik gut funktioniert, wird der Hund darin immer besser und aus seiner Sicht erfolgreicher.

Zurück zum Wohlfühl- und Sicherheitsbereich.

Dieser Bereich (stelle dir wieder den durchsichtigen Ballon vor) ist von sehr unterschiedlichem Durchmesser.

Dies hängt u.a. davon ab,

  • welcher Rasse oder welchem Typus der Hund angehört,
  • wie alt das Tier ist,
  • woher das Tier stammt,
  • welche Genetik in diesem Tier „steckt“ (Elterntiere),
  • welchen Grad der Sozialisation hat der Hund erreichen können,
  • welche bisherigen positiven, negativen Erfahrungen konnte das Tier machen,
  • auf welchem Gebiet hat es keine Erfahrungen sammeln können,
  • wie ist der Gesundheitszustand,
  • ob es Sympathien, Erinnerungen an gute oder unschöne Begegnungen gibt,
  • welcher Stress auf dem Tier lastet,
  • wie die Tagesform heute ist
  • ob es Veränderungen in der Familie oder im Rudel gibt u.v.m.

 

Demzufolge kann die Distanz unterschiedlich sein, ab wann der Hund auf Annäherung reagiert.

Auch wir haben Tage, an denen wollen wir unsere Ruhe haben und sind nicht auf erpicht, auf eine Party zu gehen.

Wenn jetzt trotz aller Bemühungen, den Konflikt zu lösen und infolge der Ignoranz des anderen Individuums die Grenze zur Individualdistanz unterschritten wird, kann es sehr kritisch werden.

Der Hund empfindet jetzt Angst oder Wut und kann mit heftiger, explosionsartiger Aggression reagieren. Da das Tier jetzt Strategien des Überlebens anwendet, ist die Ernsthaftigkeit dieser Verteidigungsreaktionen nicht zu unterschätzen.

Besteht ein gesundes Vertrauensverhältnis zum Besitzer oder Familienmitgliedern, aber auch befreundeten Artgenossen, dann wird die Unterschreitung der Individualdistanz in vielen Situationen toleriert.

Wir unterschreiten oft ungefragt die Individualdistanz unserer Hunde, zum Beispiel:

  • wenn wir das Halsband, das Geschirr anlegen,
  • einen Mantel anziehen,
  • die Leine befestigen oder lösen,
  • den Hund streicheln,
  • Zecken entfernen,
  • die Ohren reinigen,
  • den Hund medizinisch oder physiotherapeutisch behandeln,
  • die Fellpflege vornehmen,
  • uns im Auto über den Hund beugen zum Anschnallen,
  • die Krallen schneiden usw.

Deshalb ist es sehr sinnvoll, dem Hund anzukündigen, dass er jetzt z.B. angefasst wird, dass du eine Zecke entfernen möchtest, dass du den Hund anziehst, das Geschirr (auf nette Weise) anlegen möchtest usw.

Diese Ankündigung bereitet den Hund auf das Unterschreiten der Individualdistanz durch dich (oder eine andere Person) vor und bedeutet:

  • Vertrauensverhältnis wird aufrechterhalten,
  • Respekt gegenüber dem Tier und seinen Gefühlen,
  • Höflichkeit, Fairness und
  • die Möglichkeit für den Hund, NEIN zu sagen!

Ein Hund muss sich nicht von jedem Menschen anfassen lassen und muss sich auch nicht von jedem Hund beschnüffeln/untersuchen lassen. Er darf das Überschreiten der Grenze zu seiner Individualdistanz verhindern und muss es nicht klaglos erdulden!

In welchen Situationen wird die Individualdistanz oft missachtet und ruft eine Reaktion des Hundes hervor, die eine Vergrößerung der Distanz zum Gegenüber bewirken soll?

  • Hundebegegnung an der Leine (frontales Nähern)
  • zwei Hunde spielen miteinander, es kommt ein Dritter dazu
  • ein fremder Hund nähert sich dem Partnerhund,
  • Begegnung mit Joggern, Radfahrern,
  • ein unangeleinter Hund nähert sich deinem angeleinten Hund,
  • ein Unbekannter möchte den Hund streicheln,
  • ein Bekannter möchte den Hund streicheln,
  • der/die Tierarzthelfer*in/ Tierarzt/ärztin möchte/muss den Hund behandeln,
  • der/die Trainer*in möchte mit dem Hund eine Übung zeigen,
  • die Hundefrisörin möchte den Hund scheren,
  • der Hund ist mit seiner Aufmerksamkeit bei einer anderen Sache und der Besitzer muss jetzt, sofort eine Klette, eine Mücke, eine Zecke… aus dem Fell entfernen

Wenn ein Hund mit Abwehr- oder Angriffsverhalten reagiert, gibt es viele verschiedene Ursachen, nicht nur die Unterschreitung der Individualdistanz.

Jedoch wird der Fakt, dass jeder Hund eine Persönlichkeit hat und er seine Befindlichkeiten in Bezug auf distanzloses Verhalten gegenüber Menschen und Hunden auf seine Weise äußern darf, oft missverstanden oder erst gar nicht wahrgenommen.

Was kannst du also tun?

Kontakt zu fremden Menschen

  • Kein Hund muss sich von Fremden anfassen lassen.
  • Gib deinem Hund Sicherheit, indem du den Fremden auf höflichem Abstand hältst, dein Hund bekommt Leckerchen hinter oder neben dir.
  • In der Begegnung mit fremden Menschen: weiche in einem Bogen aus, gehe zur Seite, übe den Blick zum Fremden und zu dir, belohne den Hund.
  • Beschäftige deinen Hund mit beliebten Übungen/Spielzeug in sicherem Abstand, während eine Menschengruppe vorbeikommt.
  • Trainiere die Ankündigung von Menschen (wird demnächst in der Andogger-Box)erscheinen).
  • Bei Kontakt zu Fremden, darf der fremde Mensch sich klein machen (Hocke, sitzen), sich mit dem Rücken oder der Seite präsentieren, Blick zum Hund vermeiden, Arme und Hände am Körper lassen.
  • Der Hund nähert sich (Besuch, fremder Mensch, entspannter Hund) und darf in seinem Tempo schnuppern und die Annäherung gestalten.
  • Medical Training für den Tierarztbesuch in die tägliche Routine aufnehmen.

Dahingegen solltest du bitte vermeiden:

  • direkter Augenkontakt über 2 Sekunden
  • ruckartige, plötzliche Bewegungen
  • schnelles, hastiges Laufen
  • greifen, grabschen nach dem Hund
  • sich frontal dem Hund nähern
  • sich über den Hund beugen
  • Berührungsversuche
  • Hand ausstrecken zum Beschnuppern
  • Mit Leckerchen in eine Position locken, die der Hund als bedrohlich einschätzt

 

 

Kontakt zu fremden Hunden

  • in der Checkliste Hundebegegnung findest du alle wichtigen Punkte, die es zu beachten gilt
  • wenn ihr einem fremden, frei umher laufenden Hund begegnet, welcher euch “kennenlernen” möchte, (oft sind keine Besitzer zu sehen), begrüße ihn freundlich
  • aggressive Stimmung (verscheuchen, schimpfen, treten, Stöcke werfen…) übertragen sich auf deinen Hund, denn auch auf diese Weise ist Leinenpöbelei erlernbar…
  • wirf ein paar Leckerchen zum fremden Hund und gehe mit deinem Hund weiter
  • oder mache ein paar einfache Übungen mit deinem und dem fremden Hund (sitz, schau, such…)

Fazit:

So wie die Spatzen auf der Leitung brauchen auch unsere Hunde eine bestimmte Distanz, um sich wohl und sicher zu fühlen.

Diese Distanz kann sehr weit oder eher knapp bemessen sein.

Finde heraus, was dein Hund benötigt und unterstütze ihn.

Wenn du es nicht tust, muss er es alleine bewerkstelligen – und das ist nicht immer die beste Wahl für die Beteiligten.